Geschichte der jüdischen Gemeinde Stuttgart

1343
In der urkundlichen Überlieferung der Stadt Stuttgart taucht erstmals der Name eines Juden auf. Das Anfang des 14. Jahrhunderts noch weitere Familien in Stuttgart gelebt haben müssen, belegen die Existenz der „Judengasse“ und der „Judenschule“ (=Synagoge) in der heutigen Dorotheenstraße.

1348
Allgemeine Judenverfolgung (sog. „Pestpogrome“). Ende der ersten Stuttgarter Gemeinde. Synagoge und sonstige Einrichtungen werden zerstört.

1434
In der Stuttgarter Chronik werden wieder Synagoge und „Judenbad“ (=Mikwe) in der Judengasse 12 (heute: Brennerstr.) erwähnt.

1498
„Ausschließung der Juden“ entsprechend dem Testament von Herzog Eberhard im Bart. Mit Ausnahme sog. reichsritterlicher Dörfer (z. B. Freudental im LKR Ludwigsburg) ist die Ansiedlung von Juden im gesamten Königreich Württemberg verboten. Weitere Ausnahmen bilden sog. „Schutzjuden“, die mit ihren Familien aufgrund einer besonderen Erlaubnis des Herrschers in Württemberg leben dürfen (z. B. Joseph Ben Issachar Süßkind Oppenheimer).

1720
Um 1720 waren sieben „Hofjuden“ in Stuttgart ansässig, unter ihnen David Uhlmann, der mehr als 50 Jahre in herzoglichen Diensten stand und sich große Verdienste erwarb.

1732
Einer der bekanntesten Juden seiner Zeit war der Bankier Joseph Ben Issacher Süßkind Oppenheimer - später „Jud Süß“ genannt, der 1732 in die Dienste des württembergischen Herzogs Karl Alexander trat und rasch zum wichtigsten wirtschaftlichen Berater des Fürsten avancierte und an dessen Reichtum teil hatte.

1737
Im Jahre 1737 verstarb der Herzog überraschend und Oppenheimer zum Objekt der Rache. Er wurde festgenommen und musste sich einem langen Prozess stellen, der ihm Hochverrat, Majestätsbeleidigung, „Aussaugung des Landes“, Ämterhandel, Beraubung der staatlichen Kassen, Bestechung der Justiz, Münzfälschung und „Schändung der protestantischen Religion“ vorwarf.

1738
Oppenheimer wurde zum Tode verurteilt und am 4.2.1738 vor den Toren Stuttgarts hingerichtet. Tausende Menschen waren zu diesem Ereignis nach Stuttgart geströmt. Die Stuttgarter Schmiedezunft hatte aus diesem Anlass einen mannshohen Käfig gebaut, in dem ‚Jud Süß’ gehängt wurde; dieser eiserne Käfig blieb sechs Jahre am Galgen hängen.

1800
Bis 1800 lebten nur sehr wenige jüdische Menschen in der Stadt; sie waren als Bankiers und Kaufleute den württembergischen Herzögen zu Diensten.

1802
Die jüdische Familie Kaula gründet die Württembergische Hofbank.

1806
Erneuter Zuzug von Juden nach Württemberg. In Stuttgart finden bereits seit 1804 wieder Gottesdienste in jüdischen Privatwohnungen statt.

1808
Die jüdische Gemeinde Stuttgart wird offiziell gegründet, hielt ihre Andachten zunächst aber in Privathäusern und im „Alten Waldhorn“ ab.

1828
Das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ vom 25. April sichert in Artikel 48 Religionsfreiheit zu

1832/1834
Seit 1832/1834 besaß die jüdische Gemeinde einen eigenen Rabbiner; Dr. Joseph von Maier, dieser übte sein Amt vier Jahrzehnte aus (1832-1873).

1834
Bereits im Jahre 1834 konnte die Gemeinde ihren eigenen Friedhof an der Rosenbergstraße einweihen.

1837
1837 weihte die Kultusgemeinde einen Betsaal in der Langgasse 16 ein, ein Anbau an das Gemeindehaus, in dem etwa 220 Personen Platz fanden.

1852
„Erziehungsinstitut für Töchter“ wird in Stuttgart eröffnet.

1856
Erwerb des Anwesens in der Hospitalstraße in Stuttgart, auf dem sich auch heute noch das Stuttgarter Gemeindezentrum der IRGW befindet.

1857
Am 26. Mai wird der Grundstein für die im maurischen Stil errichtete Stuttgarter Synagoge gelegt. Die Gemeinde zählt ca.800 Mitglieder.

1861
Feierliche Einweihung der Synagoge am 3. Mai.

1864
„Gesetz betr. die bürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ vom 21. Juli 1864 verleiht den in Württemberg ansässigen Juden die gleichen bürgerlichen Rechte wie Christen.

1871
Mit Inkrafttreten der Reichsverfassung fällt das Verbot von Mischehen.

1874
1874 erfolgte die Anlage einer Begräbnisstätte auf dem Pragfriedhof, mit Taharahaus.

1875
Die Stuttgarter Gemeinde wuchs rasant; deshalb wurden an hohen Festtagen „Zweit-Gottesdienste“ im Festsaal des Königsbaus in der Königstraße, ab 1912 im Gustav-Siegle-Haus am Leonhardsplatz abgehalten.

1878
1878 schlossen sich orthodox-gesinnte Juden Stuttgarts in der „Israelitischen Religionsgesellschaft” zusammen, blieben aber weiterhin Mitglieder der großen Stuttgarter Gemeinde.

1882
Gründung der jüdischen „Höheren Töchterschule“ in Stuttgart.

1894
1894 wird die Judengasse in Brennerstraße umbenannt.

Israelitischer Jungfrauenverein zur Unterstützung der Ausbildung junger, armer Mädchen.

1895
Nachdem um 1895 die ersten "ostjüdischen" Familien in Stuttgart zugezogen waren, begründete man den Verein "Linath Hazedek" ("Stätte der Wohltätigkeit).

1908/1910
Seit 1908/1910 gab es in Stuttgart den Verein „Esras Achim”, der russischen Juden eine Heimstatt bot; in einem eigenen Betsaal in der Marienstraße konnten ihre Angehörigen einen eigenen Gottesdienst abhalten.

1918
Nach 1918 fanden Gottesdienste nach „herkömmlicher Art“ in einem Betsaal in der Holzstraße, wenig später in dem in der Olgastraße, in einem Hinterhaus der Rosenstraße statt.

1933/1934
Angesichts zunehmender Mitgliederzahl ließ die orthodoxe Gemeinschaft noch 1933/1934 einen Synagogenneubau in der Schlosserstraße errichten, der allerdings nur bis 1937 genutzt wurde; anschließend nutzte man einen Betsaal in einem Gebäude der Gartenstraße.

1933
Im Jahr der NS-Machtergreifung lebten in der Stadt etwa 4.500 Juden, ca. 1 % der Gesamtbevölkerung. Die meisten Juden Stuttgarts waren in die Stadtgesellschaft integriert.

Bereits drei Wochen vor dem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte am 01.04.1933 standen in der Stuttgarter Innenstadt vor den jüdischen Kaufhäusern Schocken und Tietz SA-Posten und riefen zur Boykottierung auf.

„Zur Abwehr der jüdischen Gräuel- und Boykotthetze” war in Stuttgart eine Massendemonstration auf dem Marktplatz organisiert worden; zuvor waren SA-Trupps mit auf LKWs angebrachten Hetzplakaten in den Straßen unterwegs, um jüdische Geschäfte kenntlich zu machen. Unter dem Druck der Straße verließen die ersten jüdischen Familien ihre Heimatstadt.

1935
Bis Ende 1935 waren etwa 500 Stuttgarter Juden emigriert; durch den Zuzug aus den Landgemeinden blieb der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Stuttgart allerdings konstant.

1937
Ende 1937 sank die Zahl der Juden unter 4.000 Personen.

1938
Am 28. Oktober 1938 wurden auch von Stuttgart aus „Ostjuden“ nach Polen abgeschoben. Nach ihrer Inhaftierung wurden sie vom Polizeigefängnis in der Büchsenstraße in plombierten Eisenbahnwagen in Richtung polnische Grenze abtransportiert. Die genaue Zahl der aus Stuttgart Abgeschobenen kann nicht genau beziffert werden; vermutlich waren es 100 bis 200 Menschen.

Bis zum Novemberpogrom von 1938 waren bereits zwei Drittel aller jüdischen Geschäfte aufgegeben worden, danach wurden die restlichen Geschäfte „arisiert“.

Die beiden Synagogen in der Hospitalstraße und am Cannstatter Wilhelmsplatz wurden in der Nacht des 9. November 1938 von SA-Leuten in Zivil und anderen Nationalsozialisten angezündet; Tags darauf wurden die noch bestehenden jüdischen Geschäfte geplündert. Männliche Juden wurden verhaftet und in Sammeltransporten ins KZ Dachau verschleppt. Um ihrer Inhaftierung zu entgehen, begingen mehrere Personen Selbstmord.

Die Synagogenruine in der Hospitalstraße wurde wenige Tage später abgebrochen; 15 junge jüdische Männer wurden für den Abriss eingesetzt. Die Quadersteine der Synagoge wurden verkauft und in Weinbergmauern verbaut.

1939
Zusammenfassung aller jüdischen Gemeinden in Württemberg zur Stuttgarter Großgemeinde.

Bis Kriegsbeginn waren etwa 2.100 Stuttgarter Juden emigriert, die meisten von ihnen zwischen 1936 und 1939; etwa die gleiche Anzahl war in Stuttgart verblieben; diese wurden nun in sog. „Judenhäuser“ eingewiesen.

1941
Im Dezember 1941 zwangen die Nationalsozialisten die Jüdische Gemeinde, ihre Altersheime in der Heidehof- und Wagenburgstraße zu räumen; die alten Menschen wurden in das Schloss Eschenau bzw. in sog. Unterkünfte im ländlichen Umland gebracht.

Ende November 1941 trafen auf dem Gelände der „Reichsgartenschau“ auf dem Killesberg ca. 1.000 württembergische Juden ein, die ins „Reichskommissariat Ostland“ deportiert werden sollten. Der Deportationszug verließ am 1.12.1941 den Stuttgarter Nordbahnhof in Richtung Riga; von dort wurden die württembergischen Juden ins KZ Riga-Jungfernhof gebracht. Ein Großteil von ihnen wurde in der Nähe Rigas, in einem Wäldchen in Bikernieki, erschossen. Nur 42 von ihnen überlebten die Kriegsjahre.

1942
Im Herbst 1942 lebten in Stuttgart nur noch etwa knapp 400 Juden; der größte Teil von ihnen war mit „arischen“ Ehepartnern verheiratet. Aber auch diese wurden noch am 12. Februar 1945 zum „geschlossenen Arbeitseinsatz“ nach Theresienstadt deportiert.

1945
Unmittelbar nach Kriegsende stießen zu den wenigen verbliebenen Stuttgarter Juden heimatlose jüdische Flüchtlinge aus den befreiten Konzentrationslagern.

Einrichtung von „DP-Lagern“, u. a. in der Reinsburgstraße in Stuttgart. Erste Gottesdienste und Aufbau von Gemeindestrukturen durch den U.S.-Militärrabbiner Herbert S. Eskin. Einrichtung der Chaim Nachman Bialik-Volksschule in Stuttgart.

Im Juli 1945 wurde in Stuttgart die „Israelitische Kultusvereinigung Württemberg“ gegründet, die in der Reinsburgstraße ihren Betsaal hatte.

Juden in Stuttgart bis 1945:
1710 - 4 jüdische Familien
1808 - 109 Juden
1817 - 117 Juden
1834 - 124 Juden
1844 - 211 Juden
1861 - 847 Juden
1864 - ca. 1.100 Juden
1875 - ca. 2.290 Juden
1886 - 2.568 Juden
1895 - 2.718 Juden
1900 - 3.015 Juden
1910 - 4.291 Juden
1925 - 4.548 Juden
1933 - ca. 4.500 Juden
1939 - ca. 2.100 Juden
1942 (Jan.) - ca. 840 Juden
1943 (Jan.) - ca. 360 Juden
1945 (Mai) - 24 Juden

1946
Gründung einer Talmud Torah Schule im DP-Lager.

1946 zählte man in Stuttgart fast 1.200 Juden; sie waren in Wohnblöcken des DP-Lagers No. 664 in der Oberen Reinsburgstraße und Lagers No. 668 in Stuttgart-Degerloch untergebracht; für die meisten war die Stadt Zwischenstation auf dem Wege in ein Auswanderungsland.

Ende März 1946 ereignete sich in der Reinsburgstraße ein folgenreicher Vorfall: Bei einer Razzia der deutschen Polizei gegen den Schwarzhandel wurde ein jüdischer DP-Insasse erschossen; die DPs hatten den Polizisten gewaltsam Widerstand geleistet.

1947
Auf dem Jüdischen Friedhof im östlichen Teil des Pragfriedhofs erinnert seit 1947 ein Mahnmal an die ermordeten Juden Württembergs.

1948
Wiederanerkennung der Israelitischen Kultusgemeinde Württembergs als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

1949
Im Juni 1949 wurde das DP-Camp Stuttgart-West aufgelöst; die noch verbliebenen Bewohner wurden nach Heidenheim in das dortige “Jewish Home Voith” verlegt.

1950
Beschluss zum Wiederaufbau der Stuttgarter Synagoge. Als Architekt wird Ernst Guggenheimer mit dem Neubau der Synagoge auf den Grundmauern der alten Synagoge beauftragt. Guggenheimer hatte den Abbruch der Überreste der alten Synagoge nach deren Zerstörung in der Reichspogromnacht 1938 leiten müssen.

1952
Nach mehrjährigen Planungen konnte 1952 die neue Synagoge „Beth knesset“ in der Hospitalstraße eingeweiht werden, die auf den Fundamenten der alten Synagoge steht. Die Gebotstafeln der alten Synagoge befinden sich auf dem Dachfirst des neuen Gebäudes. Zu diesem Zeitpunkt leben in Württemberg 512 Juden.

1962
Auf dem Killesberg ließ die Stadt Stuttgart einen Gedenkstein errichten.

Erste Aufstockung des Verwaltungsgebäudes der IRGW durch Architekt Jauss.

1985
Zweite Aufstockung IRGW Verwaltungsgebäude, Neubau des Kindergartens und Renovierung der Synagoge. Die Mitgliederzahl liegt württembergweit bei 670 Mitgliedern.

1992
Beginn der Zuwanderung sog. „jüdischer Kontingentflüchtlinge“ aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

1999
Die Mitgliederzahl ist durch die Zuwanderung auf 2.200 angewachsen.

2000
Dritte Aufstockung des Verwaltungstraktes der IRGW und Erweiterung der Gemeindeeinrichtungen sowie Renovierung der Gebäude.

2005
Überführung des jüdischen Religionsunterrichts von der Versuchs- in die Regelform

2006
Als „Zeichen der Erinnerung“ wurden Gleisanlagen des Stuttgarter Nordbahnhofs zu einer Gedenkstätte umgestaltet und öffentlich zugänglich gemacht. Auf der „Wand der Namen“ sind mehr als 2.200 jüdische Deportationsopfer angebracht.

2008
Gründung der Jüdischen Grundschule.

2011
Der Abschluss des Staatsvertrages des Landes Baden-Württemberg mit der IRG Baden und der IRGW stellt die IRGen erstmals in der Geschichte den christlichen Kirchen im Land Baden-Württemberg gleich.

2014
Einweihung des Kindergartenneubaus im Gemeindezentrum, Hospitalstraße.

2015
Erstverleihung der Joseph-Ben-Issachar-Süßkind-Oppenheimer-Auszeichnung.

Auf dem israelitischen Friedhof beim Steinhaldenfeld wurde 2015 ein Mahnmal eingeweiht; es wurde aus Anlass des vor 70 Jahren endenden Zweiten Weltkrieges vom Bundesverband der Veteranen des Zweiten Weltkrieges und Überlebenden der Ghettos und Konzentrationslager - gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland – eingeweiht, um den jüdischen Opfern zu gedenken.

2018
Vollendung des Umbaus Gemeindevorplatz und des behindertengerechten Zugangs zum Gemeindezentrum Hospitalstraße/Stuttgart.