Israelitische Religions­gemein­schaft Württembergs

Vorstand: Mihail Rubinstein, Prof. Barbara Traub M.A. (Vorstandssprecherin) und Michael Kashi (v.l.n.r.)

Als die Synagogen in der Stuttgarter Hospitalstraße und in der Königstraße in Bad Cannstatt – der heutigen König-Karl-Straße – brannten, da hatten die Nationalsozialisten auch hier in Stuttgart endgültig ihre Maske fallen gelassen. Um die Menschlichkeit der allermeisten Bürger auszuhebeln genügten fünf Jahre der systematischen Diskriminierung, der Ausgrenzung und der Hetze. Nach nur fünf Jahren, wer schritt dann noch ein, als Gotteshäuser brannten, jüdische Menschen drangsaliert und die Männer in Konzentrationslager verschleppt wurden?

Was später geschah, das lässt sich mit dem Verstand nicht fassen:
Am 1. Dezember 1941 verließ der erste von zwölf Deportationszügen den Stuttgarter Nordbahnhof. Umso bewegender war es, mitzuverfolgen, wie tausende junge Menschen an Stuttgarter Schulen den 80. Jahrestag der Reichspogromnacht zum Anlass nahmen, sich mit dem damals Geschehenen zu befassen. Eine ganz bemerkenswerte Initiative, die durch die jungen Menschen Stuttgarts selbst, durch die Einrichtung Lernort Geschichte und den Stadtjugendring Stuttgart auf den Weg gebracht und dann von der Landeshauptstadt Stuttgart, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e.V., dem forum jüdischer bildung und kultur e.V. und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs K.d.ö.R. wohlwollend begleitet wurde.

So wenig wir es selbst als Erwachsene schaffen, das damalige Leid mit unserem Verstand zu erfassen, so wenig wird dies jungen Menschen in einem zeitlich begrenzten Projekt gelingen. Doch haben sich fast 4.000 Stuttgarter Jugendliche in 29 Schulen, Vereinen und Initiativen engagiert und sich einen eigenen Zugang zu den damaligen Ereignissen erarbeitet. Ob Videofilme gedreht oder Theaterstücke geschrieben, Zeitzeugen gehört oder Gedenkminuten gestaltet und abgehalten wurden – stets waren es die Jugendlichen selbst, die sich den von ihnen ausgewählten Realitätsausschnitt des damaligen Geschehens aktiv erschlossen und Wege für ein ihnen angemessenes Gedenken gefunden haben. Ein angemessenes Gedenken, nicht um mit dem Kopf zu verstehen, was mit dem Verstand nicht zu fassen ist, sondern um mit dem Herzen zu verstehen, wie falsch das alles damals war.

„Es gab und gibt viele Ideologien der Menschenverachtung, aber keine ist so lange, global und intensiv ausgearbeitet worden wie die Mythologie des Antisemitismus“ , so der Religionswissenschaftler und Beauftragte gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume. „[D]ie Wirkungsmacht antisemitischer Mythen [kann man sich] dabei als jahrtausendealten dunklen Strom vorstellen, der sich einen Canyon gegraben hat. Wo immer neue Verschwörungsmythen aufquellen, werden sie nahezu unweigerlich abwärts strömen und sich schließlich mit dem antisemitischen Grundstrom vereinigen.“

Auch in Stuttgart fließt dieser jahrtausendealte, dunkle Strom – mal als Rinnsal, mal als Bach. Und er trat in der Stadtgeschichte mehrfach über die Ufer und riss alles mit sich, wie die jungen Menschen bei ihrer Beschäftigung mit der sog. „Reichskristallnacht“ beispielhaft erfahren haben.

In der Initiative „Stuttgart aktiv gegen Antisemitismus“ kommt zum Ausdruck, dass man sich der latenten Gefahr des Antisemitismus bewusst und bereit ist, präventiv Maßnahmen zu ergreifen. Dass wir es in Stuttgart in unserer begrenzten Zeit schaffen werden, diesen dunklen Strom vollständig zum Erliegen zu bringen, das wäre wohl eine tollkühne Hoffnung. Doch müssen wir die Herzen der Menschen widerstandsfähiger machen, auf dass sie diesen zersetzenden Strömen in Zukunft Aufklärung, Anstand und Menschlichkeit entschlossener entgegen setzen.